Abenteuer Wildnis
- Written by Redaktion_Report
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Es ist früher Morgen. Noch liegt eine friedliche Stille über dieser majestätischen Landschaft aus Drehstühlen, Rechenmaschinen und Raufasertapeten. Noch schlafen die Bewohner dieser scheinbar so unwirtlichen Umgebung. Hier, in dieser noch unberührten Ecke unseres Planeten, zeigt sich die Schöpfungskraft der Evolution in einem vielfältigen Schauspiel der Natur. Doch da: Die Lifttür öffnet sich, ein erster Gast betritt die Szene und wittert vorsichtig die Morgenluft: Es ist eine Sekretärin, Homo sapiens tintifax, ein erfahrenes Weibchen, das, wie jeden Tag, die kurze Ruhe des Morgens genießt, bevor ihre Artgenossen und Fressrivalen die Szene betreten. Faszinierend zu beobachten, wie sie die ersten Rituale des Tages vollbringt: Ohne sich von unserer Kamera stören zu lassen, füllt sie, einem angeborenen Instinkt folgend, die Kaffeemaschine und sichert sich ihren angestammten Platz im Büro. Es ist dieser territoriale Instinkt, der sie mit zunehmendem Alter erbittert ihren gewohnten Platz verteidigen lässt und dieser Art auch den wenig schmeichelhaften Spitznamen »Vorzimmerdrache« eingebracht hat. Doch die Ruhe währt nur kurz: Mit lautem Schnattern und Geschrei betritt eine kleine Herde von jüngeren Artgenossinnen die Szene; sie tragen noch das farbigere Gefieder, wie es für jüngere Exemplare der Gattung typisch ist. Ein Männchen einer anderen Spezies hat sich unter die Ankömmlinge gemischt: Ein Homo sapiens paragrapheris, im Volksmund auch Schreibtischhengst genannt, schleicht zu seinem Platz, abseits vom lauten Geschnatter seiner Fressfeinde. Jüngere Forschungen haben eine faszinierende Eigenschaft dieser scheuen Spezies nachgewiesen: Wenn Gefahr droht, verharren sie völlig regungslos hinter ihren Schreibtischen und werden für Rivalen und Raubtiere fast unsichtbar. Und wir haben tatsächlich Glück: Ein natürlicher Feind unseres scheuen Schreibtischhengstes nähert sich dem eben erst am eigenen Platz eingetroffenen Männchen. Es ist ein massives Exemplar der Gattung Homo sapiens akribior, ein Buchhalter, der hier, im frühen Morgengrauen, das Unterholz laut grunzend nach Abrechnungen und Spesenbelegen durchforstet. Erst als die Gefahr vorbei ist, wagt sich das vorsichtige Schreibtischhengst-Männchen wieder hinter seinem Schreibtisch hervor; bei ungünstigen Bedingungen kann die Schutzstarre durchaus den ganzen Tag anhalten.Langsam füllt sich das Biotop mit Leben: Das laute Fiepen eines Schwarms Praktikanten (Homo sapiens desperatus) erfüllt die Räume, Schreibtischhengste traben zur Wasserstelle, um sich zu laben. Wie viele Bewohner dieser faszinierenden ökologischen Nische ernähren auch sie sich hauptsächlich von Koffein, um dessen Bereitstellung häufig brutale Futterkämpfe ausbrechen. Die Geduld unseres Forscherteams wird belohnt: Ein scheues Männchen der Gattung Homo sapiens EDVensis wittert die raucherfüllte Morgenluft der Kaffeeküche - und macht sich auch sogleich aus dem Staub. Diese faszinierende Spezies führt ein zurückgezogenes Einzelgängerdasein und zieht sich ausschließlich mit Männchen der eigenen Gattung zu für Außenstehende mysteriösen Paarungsritualen in dunkle Höhlen, die sogenannten Serverräume, zurück. Plötzlich liegt angespannte Stille über dem eben noch so belebten Büro. Und tatsächlich: Ein imposantes Silberrücken-Männchen, Homo sapiens chefiensis, betritt den Raum und begibt sich an die ihm allein zustehende erhöhte Position. Dieses faszinierende Exemplar wird von einer kleinen Schar Artgenossen begleitet, die noch nicht ihre völlige Größe und Körperfülle erreicht haben; in gewalttätigen, aber subtilen Revierkämpfen erproben die Jüngeren aneinander wiederholt ihre Kräfte, um irgendwann vielleicht selbst zum Anführer des Rudels aufzusteigen. Doch nur die wenigsten schaffen es, den majestätischen Silberrücken im eigenen Büro im direkten Kampf zu bezwingen; die, die scheitern, werden verstoßen und müssen sich andere Reviere suchen. Und so nimmt ein weiterer Tag im Kreislauf des Bürolebens seinen Anfang. Es ist ein beeindruckendes Schauspiel, das sich hier, an diesem faszinierenden Schauplatz der Natur, unverändert Tag für Tag bietet, ein perfektes Zusammenspiel unterschiedlicher Arten. Seien Sie auch nächsten Monat wieder dabei, wenn wir ein weiteres unvergleichliches Naturschauspiel untersuchen: die Paarungszeit in dieser einzigartigen ökologischen Nische - auch »Weihnachtsfeier« genannt.